Das Ende der Fahnenflucht

Mehr Pfeifen machen mehr Lärm (FOTO:DPA)

30.10.2007 Die Gewerkschaften verloren lange massenweise Mitglieder / Jetzt herrscht wieder Optimismus

Badische Zeitung vom Dienstag, 30. Oktober 2007

Von BZ - Redakteur Ronny Gert Bürckholdt

FREIBURG. Vom Aufschwung profitieren nicht nur Unternehmer und Arbeitnehmer, sondern auch die Gewerkschaften. Lange verloren sie scharenweise Mitglieder. Die im DGB organisierten acht Einzelorganisationen büßten seit der Jahrtausendwende 1,2 Millionen Anhänger ein. Ende 2006 blieben 6,6 Millionen. Das schwächte die Kampfkraft und leerte die Kassen. Jetzt spüren sie eine Trendwende.

Der Mitgliederschwund schwächt sich bei vielen Gewerkschaften deutlich ab. Die ohnehin gut organisierte IG Metall meldet im Südwesten erstmals seit Jahren sogar mehr Zu- als Abgänge.

Die IG Metall in und um Freiburg merkt den Wirtschaftsboom mit Verspätung. Zwischen Januar 2005 und Januar 2007, als die Konjunktur bereits angezogen hatte, ging es zunächst weiter abwärts mit der Zahl der Mitglieder, die gleichzeitig Beitragszahler sind. 445 Anhänger gingen eigenen Angaben zufolge innerhalb dieser 24 Monate verloren. Das waren 4,5 Prozent. Seitdem aber sei der Abwärtstrend gestoppt. Die Zahl der Mitglieder, von denen jeder ein Prozent seines Bruttolohns an die IG Metall abführt, pendelt um die Marke von 9700 — in den vergangenen Monaten sogar mit steigender Tendenz.

Nicht nur die IG Metall, sondern auch andere Gewerkschaften profitieren davon, dass der Aufschwung viele Jobs gebracht hat. Wird jemand arbeitslos, tritt er in der Regel aus der Arbeitnehmerorganisation aus — obwohl er keine Beiträge mehr zahlen muss.

Von einem neuen Selbstbewusstsein in den Belegschaften spricht der regionale IG-Metall-Chef Hermann Spieß. "Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, ducken sich viele Arbeitnehmer weg. Sie haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Im Aufschwung aber werden viele von ihnen mutiger und gründen neue Betriebsräte, da sie schlechte Erfahrungen damit gemacht haben, dass ihr Arbeitgeber alleine bestimmt, was für die Arbeitnehmer gut sein soll. Jetzt wollen sie mitbestimmen." In sechs südbadischen Firmen — mehr als üblich — seien in den vergangenen Wochen erstmals Betriebsräte gewählt worden. Dies widerspricht der Ansicht, den Beschäftigten sei die Arbeit ihrer Räte in guten Zeiten egal — nur in der Krise nicht.

Freiburgs IG Metall ist kein Einzelfall. "Wir rechnen damit, dass in diesem Jahr zum ersten Mal seit Jahren klar eine schwarze Null steht — wenn wir nicht sogar Zuwächse haben werden" , sagt Baden-Württembergs IG-Metall-Chef Kai Bliesener. Optimistisch ist die Gewerkschaft bundesweit. Nach einem Mitgliederverlust von 1,8 Prozent 2006 geht sie nun von Minus 1,0 Prozent aus. "Das hat auch etwas mit unseren tarifpolitischen Erfolgen zu tun" , meint Sprecherin Ingrid Gier. Die Löhne in der Branche stiegen in diesem Jahr um 4,1 Prozent, weitere 1,7 Prozent plus Einmalzahlung folgen 2008. Der designierte IG-Metall-Chef Berthold Huber hatte 2006 ein ehrgeiziges Ziel ausgegeben: "Ende 2007 wollen wir die Trendwende bundesweit geschafft haben" , sagte er. Huber ist als Vizechef für die Mitgliederwerbung zuständig.

Auch den Gewerkschaften anderer Branchen geht es eigener Darstellung zufolge besser, obwohl es dort wirtschaftlich nicht so gut läuft wie bei den vom starken Export beflügelten Metallern. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) rechnet 2007 bundesweit mit einem Mitgliederminus von zwei Prozent — nach bis zu fünf Prozent in den vergangenen Jahren. "Vor allem bei den jungen Kollegen unter 28 Jahren gewinnen wir viele Mitglieder" , sagt Sprecherin Karin Vladimirov. Ihr Kollege Michael Denecke von der IG BCE: "Auch bei uns hat sich der Verlust deutlich reduziert — auch wenn wir unter dem Strich weiter Mitglieder verlieren. In vielen Bereichen, etwa dem Steinkohlebergbau, gehen viele Arbeitsplätze verloren. Das können wir an anderer Stelle nicht vollständig auffangen." Südbadens IG-BCE-Chef Wilfried Penshorn rechnet 2007 mit einem Minus von zwei Prozent — nach drei Prozent in den vergangenen Jahren. "Im Moment sieht es sehr gut aus."

Keinen positiven Trend sieht dagegen die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die vor zwei Jahren den Titel der größten Gewerkschaft an die IG Metall verlor. Verdis Basis bröckelt weiter — zuletzt pro Jahr um drei Prozent. Sprecherin Cornelia Haß: "Der Einzelhandel merkt wenig vom Aufschwung. In den Druckereien, bei Banken und Versicherungen werden enorm viele Arbeitsplätze abgebaut." Ohne Jobs keine Mitglieder.

Letzte Änderung: 21.11.2007